Seit nunmehr drei Jahren hat sich die Retro Ronde im belgischen Oudenaarde als fester Bestandteil unseres Radsportkalenders etabliert. Kopfsteinpflaster de Luxe, tolle Strecken mit wunderbar fiesen Rampen, eine Organisation wie aus dem Lehrbuch und die herzlichen Menschen der Region zaubern immer wieder ein breites zufriedenes Grinsen auf unser Gesicht.
Doch nicht nur der sonntägliche Ritt über Flanderns Wege stand diesmal auf unserem Plan, sondern auch ein überaus vielfältiges Programm quer durch Flanderns überaus reichhaltige Radsportgeschichte. So konnten wir unter Anderem gemeinsam mit Wolfgang Scherreiks vom Fahrradjournal die üppigsten Anstiege der Flandernrundfahrt besuchen sowie im Supportercafe am Radsportmuseum von Oudenaarde Ex-Weltmeister und Sprinterlegende Freddy Maertens zu einem entspannten Plausch treffen.
Zwischen diversen wetterbedingten Reifenwechseln, dem in einer alten Kapelle stattfindenden Radsportflohmarkt und „Last-Minute“-Bastelstunden bekamen wir auch bei unseren notwendigen Kleinteile-Einkaufstouren einen umfangreichen Einblick in Flanderns Radsport von Gestern und Heute. Fast jeder Radhändler im Umland von Oudenaarde hat eine innige Verbindung zur langen Historie der Ronde van Vlaanderen, die ja in diesen März ihren hundertsten Geburtstag feierte. Uns wurden Geschichten erzählt, stolz alte Räder vorgeführt und es stellte sich bei einem netten Gespräch in einem vorbildlich sortierten Radladen in Kluisbergen (Jowan Bikes) heraus, dass dieser von den Eltern des RetroRonde-Organisators betrieben wird.
Den Abschluss und einen Höhepunkt unserer Flandern-Rundreise bildete der Besuch beim begeisterten Stahlrahmenbauer Diel Vaneenooghe in Ruiselede, über den wir etwas mehr berichten möchten.
Die Radmarke Jaegher ist in Deutschland bislang nur den allerwenigsten Aficionados bekannt und selbst Kennern sagt der Familienname Vaneenooghe kaum etwas. Doch beschäftigt man sich etwas näher mit dem Thema, betreibt ein bisschen Recherche, dann stellt man fest, dass es sich hierbei um eine der legendärsten belgischen Radschmieden der letzten 100 Jahre handelt.
Mittlerweile repräsentiert der 31jährige Diel Vaneenooghe die vierte Generation der radsportbegeisterten Familie, auf deren Rennern unzählige nationale und internationale Erfolge erzielt wurden. Urgroßvater Odiel jagte mit seinem Rad in den Jahren zwischen 1930 und 1934 über das belgische Kopfsteinpflaster, Großvater Etienne „The Bull“ wandelte sein Bier-Cafe in einen Radladen und Werkstatt um, um so zwei belgische Leidenschaften zu vereinen: Bier und Radsport. Etiennes Sohn Luc stieg bereits in jungen Jahren in den Rahmenbau ein und setzte die Familientradition fort, seine Rahmen wurden unter anderem von Eddie Merckx, Freddy Maertens oder Sean Kelly gefahren. Natürlich, wie es damals üblich war, umlackiert in den Farben des jeweiligen Sponsors und Vertragspartners. Gerüchte, dass seinerzeit der Flandria-Chef von Maertens zum Lackieren in die Fabrik geschmuggelte Rahmen zersägte, wurden von Freddy Maertens selbst lachend bestätigt. Diese hochwertigen „Fake-Rahmen“ wurden von versierten Rahmenbauern aus dem Hause Gios Torino oder halt Luc Vaneenooghe auf Maß für die Profis der damaligen Zeit angefertigt.
Diel selbst ist praktisch zwischen den alten Maschinen und den handgefertigten Rahmen groß geworden. Als Steppke verdiente er sich sein Taschengeld mit dem maßgenauen Befeilen der angelieferten Muffen, sein Vater drückte ihm pro Muffe einen Belgischen Franc in die Hand. Wer in so jungen Jahren bereits die Feile gekonnt schwingt, hat entweder schnell die Nase von der ehrlichen Handwerksarbeit voll, oder er ist Feuer und Flamme für den Beruf des Rahmenbauers. Diel traf die richtige Entscheidung und führt heute den Betrieb mit Leidenschaft, Wissen und Stolz um die lange Familientradition. Er hat sich voll und ganz dem Rahmenbau mit Stahl verschrieben, weil er es schlichtweg für das am besten geeignete Material für hochwertige und langlebige Rennräder hält. Den ewig gleichen Gewichtsdiskussionen entflieht er locker mit einem 6,4kg Renner, möglich gemacht durch absolute HighEnd-Stahlrohre moderner Fertigung. Und auch Innovationen sind noch möglich, sieht man sich allein die sehr interessant gestalteten Ausfallenden der Jaegher-Rahmen an. Zukünftige Technologien wie der 3D-Edelstahl-Print werden weitere Neuerungen und Individualisierungsmöglichkeiten mit sich bringen, die bei geschicktem und geschmackvollem Einsatz den klassischen Look und die Performance eines Stahlrahmens positiv beeinflussen.
Auch wenn die heutige Herstellung handgefertigter Rahmen sich nur marginal von den Techniken von vor 50 Jahren unterscheidet, so sind es oft genau diese Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachen. Einigen Maschinen in der Werstatt sieht man ihren langjährigen Einsatz an, sie verbreiten das Gefühl der guten alten Zeit. Dinge, die man nicht mehr besser machen kann. Eher als sinnvolle Ergänzung denn als Widerspruch erscheint dazu die hochmoderne Technologie in einigen Bereichen. So unterstützt digitale Messtechnik die erforderliche Genauigkeit, muffenlose Rahmen werden beim Schweißvorgang von innen mit Schutzgasen befüllt, um eine oxidationsfreie, perfekte Schweißnaht zu bewerkstelligen. Tradition und Moderne Hand in Hand, ein Bild, dass stellvertretend für die Rahmen und das Konzept von Vaneenhooghe gelten kann.
Der Aufwand, der hier betrieben wird, um einen Rahmen für einen Kunden auf Maß und auf die zukünftigen Anwendungsgebiete und Bedürfnisse zuzuschneiden, ist enorm hoch. Jedoch genau das ist es, was diese Handarbeit ausmacht: Der Kunde bekommt einen millimetergenau aufgebauten Rahmen, der absolut einzigartig ist. Handwerkskunst.
Unser ausgeprägtes Interesse gerade an alten Rädern kam im Gespräch immer wieder überdeutlich durch und so wurden uns auch einige Schätze aus der Geschichte der Firma vorgeführt. Sowohl einen alten Merckx-Rahmen als auch einen neulackierten Flandria-Rahmen aus der Zeit von Diels Vater durften wir bewundern. Und der wertvollste Renner in Diels smart und schlicht gestalteten Laden ist für ihn das Rad seines Urgroßvaters. Eine Aussage, die viel über die Verbundenheit zum klassischen Radsport ausdrückt, die sich Diel Vaneenooghe bewahrt hat.
Amüsanter Schlusspunkt unseres Besuchs war der Blick auf unseren von der Retro Ronde mächtig eingesauten Fuhrpark. Eigentlich dachten wir, unser knallgrünes End70er Flandria mit Campa-Ausfallenden könnte hier in der Werkstatt entstanden sein, aber unser blaues Jan Janssen aus den 90ern weckte sofort Diels Aufmerksamkeit. So fertigte seine Familie lange Jahre die Räder, die schließlich unter dem Namen des populären niederländischen Tour De France-Gewinners von 1968 in den Handel kamen. Unser Renner wurde von ihm umgehend in die Werkstatt gebracht, um dort die kleinen Probleme mit den Zuführungen im Oberrohr zu bearbeiten. Somit war nicht nur unser altes Flandria zu Besuch in der alten Heimat, auch das Jan Janssen, das wir eigentlich einer italienischen Radschmiede unterjubeln wollten, ist in sein Ursprungsland Flandern zurückgekehrt.
Unser Dank gilt Diel für ein sehr informatives Gespräch und für den sehr offenen und genauen Einblick in seine Arbeit. Wir sind sicher, wir sehen uns wieder. Spätestens bei unserem nächsten Besuch in Flandern. Oder bei uns in Düsseldorf.
Text: Carsten Wien Bilder: Kerstin Kortekamp
Ein sehr schöner Bericht, der sogleich den Wunsch weckt, auch einmal gen Belgien zu starten.
Sollte sich von euch mal jemand gen Osten orientieren wollen, wir fahren hier ebenfalls Kopfsteinpflaster satt, einmal im Jahr, bei der “Hölle des Ostens”:
http://guterbubi.wordpress.com/2012/04/14/fegefeuer/