In den letzten Jahren gehörte ein Besuch in Italien zu den festen Bestandteilen einer Klassikerausfahrt-Saison. Im Oktober rief uns stets die L’Eroica, die Mutter aller Retro-Veranstaltungen. Und wir sind diesem Ruf in die schöne Toskana stets nur zu gern gefolgt. Dass wir im aktuellen Jahr nicht zu den mittlerweile per Losverfahren ausgewählten Glücklichen gehören, ist zwar kein Drama, aber schon etwas enttäuschend. Da kam uns eine frühsommerliche Alternative gerade recht: die Ausfahrt zu Ehren des zweimaligen Tour de France Gewinners Ottavio Bottecchia sollte es sein, die uns einen ereignisreichen Kurzbesuch in Venetien bescherte. Flugs wurden zwei Rickert und eine Gazelle eingepackt, Billigflüge gen Venedig gebucht und ein Programm ausgearbeitet. Schön, wenn da verschiedene Dinge rund um den Radsport so wunderbar zusammenpassen.
Spätestens als der von uns bestellte Fahrer eines Kleinbusses, den wir aufgrund unserer drei Monsterradkoffer brauchten, uns am Flughafen von Venedig mit dem Schild „Schicke Mütze“ am Flughafen empfing, waren wir uns sicher, ein paar tolle Tage vor uns zu haben. Warum uns dieses Schild ein riesiges Grinsen aufs Gesicht zauberte, werden wir demnächst hier ausführlicher erklären.
Der erste Abend bescherte uns eine nette Überraschung, das letzte offene Lokal am Platz hieß uns mit Radsportbildern willkommen, man schüttelte ein umkompliziertes Pastagericht aus der eigentlich schon geschlossenen Küche und verwickelte uns am Ende des Abends in ein lustig-feuchtfröhliches Gespräch mit Stammgästen des Hauses, bis wir schließlich, nachdem die Rolladen der Trattoria unten waren, mitten in der Nacht noch laut lachend mit dem Bier- oder Weinglas in der Hand auf dem Bürgersteig standen. Ein Auftakt nach Maß.
Bevor wir uns jedoch selbst in Conegliano, dem Startpunkt der Ottavio Bottecchia-Gedenkfahrt, aufs Rad schwingen wollten, konnten wir nicht widerstehen, uns mal die wirklichen Könner auf modernem Material, ihre internationalen Fans und pink geschmückte Straßenzüge anzusehen: der Giro d’Italia durchquerte die Nachbarschaft. San Giacomo, ein eher beschaulicher, weil flacher Ort auf der 19. Etappe, dem über 26km langem Bergzeitfahren, erwies sich als gute Wahl. Stimmung auf den Straßen, jubelnde und anfeuernde Menschen mit Spaß und Gemeinschaftsgefühl, aber nicht zu voll und aufdringlich.
Radsport ist ein Sport ohne Barrieren, der den Zuschauern im wirtschaftlich arg gebeutelten Italien auch ohne horrende Eintrittspreise ein spannendes Erlebnis vermittelt. Immerhin kann man nicht mal eben so 2 m neben Marco Reus rumstehen, während der seinem Arbeitstag nachgeht. Und wenn die alte Dame aus dem Haus an der Strecke rauskommt, um uns Plätzchen anzubieten, weil man da gerade am Straßenrand rumsitzt und auf gute Bilder hofft, dann ist das schon toll. Auch wenn es natürlich extrem schnell geht, wenn ein Nairo „Pretty in Pink“ Quintana oder ein Fabio Aru am Straßenrand vorbeischießt. Und man so immer nur einen Bruchteil, eine winzige Facette des Renngeschehens so miterlebt.
Nach dem Profi-Radsport in Rosa erwartete uns am Samstagnachmittag ein ganz anderes Ereignis: die italienische Radbekleidungsfirma De Marchi lud zur Eröffnung ihres Showrooms und Ladens ein. Wir müssen gestehen, dass wir beim diesjährigen Besuch der Berliner Fahrradschau etwas irritiert bis peinlich berührt waren, dass uns der Name De Marchi nix sagte, immerhin gab es dort am Stand hochwertig gemachte offizielle Replikas legendärer Shirts zu sehen. Aber da die Firma bis vor kurzer Zeit oft als Produzent für andere, weitaus bekanntere Labels gearbeitet hat, konnten wir uns diesen Faux Pas verzeihen. Aber unsere Neugier war geweckt.
Zeit für einen Blick in die Firmengeschichte und die derzeitigen Aktivitäten. Der 1906 geborene Emilio De Marchi gehörte als Fahrer, Mechaniker und Betreuer zum Radsportzirkus der 20er Jahre. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gründete er sein Sportbekleidungsunternehmen, um mit Hilfe moderner Stricktechniken Bekleidung zu entwickeln, die auf die Anforderungen des Radrennsports ausgerichtet war. So wurden die Trikots enger, es konnte auf Nähte verzichtet werden und die ledernen Polster der Radhose wurden verbessert.
Mit der Professionalisierung des Radsports vollzog sich in der Firma De Marchi ein Generationswechsel, Emilios Tochter Elda, im Unternehmen groß geworden, übernahm die Geschicke. Legendäre Fahrer der sechziger, siebziger und achtziger Jahre wie Fausto Coppi, Francesco Moser oder Felice Gimondi schätzten die Produkte der norditalienischen Firma, die synthetischen Sitzpolster galten als die innovativsten am Markt.
Die dritte Generation, die Ende der achtziger Jahre die Firmenleitung übernahm, baute die internationalen Beziehungen aus. De Marchi fertigte im großen Stil für Label wie Ritchey, Schwinn, Fisher, Scott, Trek und andere äußerst namhafte Marken, die sich gerne das Knowhow der Radsportbekleidungsfirma zu Nutze machten. Doch ein solcher Weg kennt oft nur eine Richtung: höher, schneller, weiter. Mehr Umsatz, Kosten senken, mitspielen im Kampf um den Preis. Ausgelagerte Produktion inklusive.
Daher gilt es dem jetztigen Firmenchef Mauro Coccia, Enkel des Firmengründers Emilio De Marchi, tiefsten Respekt zu zollen für seine Entscheidung, die sprichwörtliche Reißleine zu ziehen und sich auf die Tradition seiner Firma zu besinnen. Alte Webstühle wurden reaktiviert, Materialien nur noch in Italien eingekauft, die Produktion wieder komplett in heimatliche Gefilde verlegt. Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit spielte eine große Rolle im Umbau der Firma.
Neben der klassischen Kollektion, die Replika-Trikots der glorreichen Radsportepochen in Wolle umfasst, gibt es auch stilvoll gestaltete moderne Radsportkleidung, die den Vergleich mit den Hi-End-Marktführern nicht scheuen muss. Ein Unternehmen, das uns nicht nur durch die klassische oder klassisch geprägte Radbekleidung gefällt, sondern uns auch von der Art der Produktion und Ausrichtung zutiefst sympatisch ist.
Der Showroom von De Marchi ist stilsicher gemacht, aber auf eine Art, die sich von der üblichen Etikette und Styling angenehm abhebt. Die tiefe Verbundenheit zur langjährigen Radsportgeschichte ist in jeder Einzelheit abzulesen. Toll die alte Werkstatt im hinteren Bereich, die kein Showeffekt ist, sondern dort in der Form seit ca. dreißig Jahren steht. Ältere Radsportler der Umgebung haben ihre Radklassiker in den Laden gestellt, Zeitgeschichte zum Staunen und Bewundern. Man spürt die Liebe zur Materie und findet sich in einer so herzlichen Atmosphäre wieder, dass man eher geneigt ist, von einer Familie als von einer Firma zu sprechen. Die ganze Nachbarschaft plaudert vor dem Laden gutgelaunt ohne Barrieren.
Am nächsten Morgen fanden wir uns ebenda in Radsportmontur und mit unseren Fahrrädern wieder ein, um auf Ottavio-Bottecchia-Tour zu gehen. Inwieweit De Marchi als Hauptsponsor dafür verantwortlich ist, wissen wir nicht, aber einer großen Veranstaltung würdig waren die professionelle Organisation und das Aufgebot an Begleitfahrzeugen, die für die ca. 80 FahrerInnen bereit stand. Auch hier bewiesen die Italiener gewohnte Stilsicherheit. Eine Schar zeitgerechter, motorisierter Oldtimer, eine Motorradstaffel, zahlreiche Ordner und ein Ambulanzfahrzeug standen bereit. Die Strecke war komplett ausgeschildert, an den Kreuzungen wurde unsere Durchfahrt freigesperrt. Natürlich zog sich das Feld recht schnell auseinander, die geplante Strecke von 120 km ließ einige Fahrer zurückhaltend starten. Wir kamen gut in Schwung, waren dank unserer 25er bzw. 28er Bereifung schotterkompatibel unterwegs und hatten unseren Spaß. Die Landschaft erinnerte in vielen Bereichen an die Toskana rund um Radda, selbst die Weinreben waren in der Heimat des Prosecco reichlich vorhanden.
An einem der Weinberge wurde im Juni 1927 Ottavio Bottecchia, Namenspatron der Ausfahrt, schwer verletzt gefunden, wenige Tage danach verstarb er. Die Vermutungen der Todesursache umfassten einen Trainingssturz, einen Überfall durch Faschisten sowie einen Mord eines Weinbauern, der Ottavio Bottecchia beim Stehlen von Weintrauben erwischt haben will. Bis heute konnte nicht geklärt werden, was damals passierte.
Bottecchias Werdegang, seine Tour de France-Siege 1924 und 1925, seine offene Ablehnung des unter Benito Mussolini in Italien aufkommenden Faschismus und nicht zuletzt sein ungeklärter Tod machen den Norditaliener bis heute zu einem populären Helden der an Helden nicht armen italienischen Radsportgeschichte. Sein Name ziert tausende italienischer Fahrräder, die von ihm 1926 gegründete Firma Bottecchia ist noch heute eine der populärsten Radmarken Italiens. Ein Namenspatron ganz nach dem Geschmack der Klassikerausfahrt.
Nicht nach unserem Geschmack war eine Kreuzung mit etwas kryptischem Wegweiser, die uns auf einen kleinen Berg schickte. Oben angekommen vermissten wir die Beschilderung, nach kleinen Umwegen gelangten wir aber schließlich wieder auf die eigentliche Strecke. So haben wir die 120km Strecke kurzerhand um 23km erweitert, um uns im strahlenden Sonnenschein ein wenig zu schinden. Abkürzen kann schließlich jeder, die Kunst ist es, italienische Entfernungen selbst noch ein wenig zu verlängern.
Leer und mit schweren Beinen stiegen wir in den Bus, der uns zum Startpunkt zurückbrachte. Eine kurze Pause, danach ging es mit einer deutsch-belgischen Radsportdelegation in die Trattoria des ersten Abends, um dort bei Pasta und geistigen Getränken über ein paar tolle Tage in Norditalien zu philosophieren.
Nicht nur die L’Eroica verkörpert den heldenhaften Radsport der vergangenen Jahre, Spaß mit alten Rädern kann man fast überall in Italien haben. Und ein Abstecher in die technische Moderne hat auch seine Reize, die Stimmung rund um den Giro D’Italia hat uns gepackt. Kurzum: ein paar schöne Tage in Italien….
Mit einem Lächeln auf den Lippen
Eure Klassikerbrigade
Gegen einen Trainingsunfall Bottecchias sollte sprechen, dass er mehrere Knochenbrüche und einen Schädelbruch hatte, sein Rad aber wohl unbeschädigt war. Und ob ein Weinbauer einen Radfahrer so zurichtet wegen ein paar Tauben…?
Mark Benecke: Bitte übernehmen sie!!! 😉
Ich fürchte, dass dieser Fall leider nicht mehr aufgeklärt werden kann. Seine Ablehnung dem Faschismus gegenüber reicht ja schon aus, ihn auf die Seite der Guten zu stellen, deshalb ist es einfach schade, dass er so jung gestorben ist. Ich finde es zumindest wichtig, dass sein Name nicht vergessen wird und Dank der Fahrt eventuell sogar neue Leute auf die Geschichte aufmerksam werden. Mal abwarten, ob sich die sehr schöne Runde zu seinen Ehren in Italiens Norden auch zu einer Instanz a la L’Eroica entwickelt. Ich fänd’s gut….